Wenn Sie sich jetzt fragen sollten: »Jeanine De Bique? Noch nie gehört…«, dann liegt das vielleicht daran, dass die Sopranistin hier noch nicht so bekannt ist, auch wenn sie bereits als »atemberaubende Entdeckung« (NRC, Niederlande) und für ihre »dramatische Präsenz und Vielseitigkeit« (Washington Post, USA) gefeiert wurde. Bei den Salzburger Festspielen, an der Amsterdamer Oper und bei den BBC Proms in London ist sie längst keine Unbekannte mehr.

Die Spiegelleidenschaft im Barock und Rokoko

Luxusprodukt Spiegel: Must-Have bei Hofe

Das Spiegelsymbol ist für das 18. Jahrhundert, dem das Repertoire von »Mirrors« entliehen ist, allgegenwärtig. Zu Beginn des Barock werden Spiegel zu einem äußerst beliebten und nur für die Allerreichsten erschwinglichen Objekt, man denke etwa an den Spiegelsaal in Versailles, der zum Vorbild für viele Schlösser wurde. Weil die Produktionsgeheimnisse des Spiegels außerhalb von Italien noch nicht ergründet waren, werden sie von dort importiert. Frankreichs Sonnenkönig entsendet Spitzel nach Italien, die Leib und Leben riskieren, damit sie das Handwerkswissen ausspionieren.

Rokoko: Das Leben als Inszenierung

Etwas später, im Rokoko (etwa 1730-1770), kommt es zu einer regelrechten Spiegelleidenschaft. Diese Passion symbolisiert laut Egon Friedell »die Liebe zum Schein, zur Illusion, zur bunten Außenhülle der Dinge, was aber nicht so sehr ›Oberflächlichkeit‹ als vielmehr extremes Künstlertum, raffinierte Artistik bedeutet.«

»Aus dieser Spiegelleidenschaft spricht mancherlei. Nicht bloß, was am nächsten liegt, Eitelkeit, Eigenliebe, Narzißmus, sondern auch Freude an Selbstbeschau, Autoanalyse und Versenkung ins Ichproblem, die sich in der Tat oft bis zu einer wahren
Introspektions m a n i e  steigerte.«

Egon Friedell (1878-1938), aus: „Kulturgeschichte der Neuzeit“

Im Barock betrachten die Menschen die Welt als »Theatrum mundi« (lateinisch für Welttheater), als Metapher für die Vergänglichkeit. Darin hat jeder Mensch seine vom Schicksal bzw. von Gott auferlegte Rolle in diesem Welttheater zu spielen. »Die Revolution des Rokoko: Sie nehmen dessen Inszenierung selbst in die Hand. Jeder setzt sich selbst in Szene, und alle gemeinsam führen Regie über die Wirklichkeit.« Der Rokoko-Mensch macht sich »zum Zentrum der Illusionsmaschinerie, kreiert sich als Kunstwerk vom Körper bis zur Seele.« (Micaela von Marcard)

Micaela von Marcard, aus: „Rokoko oder das Experiment am lebenden Herzen“

Innerhalb höfischer Konventionen ist es schwer, individuelle Wege zu gehen. Der Weg von der Kollektividentität zur Individualität ist im Rokoko noch weit.

Die Stimme als Spiegel der Seele

Man könnte sagen: Diese Spiegelleidenschaft des Rokoko im Sinne des raffinierten Künstlertums ist für Jeanine De Bique Inspiration für ihre Vorbereitung auf ihre unterschiedlichen Rollen. Sie setzt sich intensiv mit den ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, denen sie ihre Stimme verleiht, auseinander, etwa mit der zwischen Liebe und Macht hin- und hergerissenen Kleopatra, der Intrigen schmiedenden Agrippina, die unbedingt ihren Sohn auf dem Thron sehen will, oder Rodelinda, die trotz ihres schweren Schicksals standhaft bleibt. Ihr Ziel: Das Unsichtbare hörbar machen.

»Während der Arien, die den Affekt des Moments ausdrücken, kann das Publikum direkt in die Seele des Sängers schauen, es kann das Unsichtbare sehen, das Unhörbare hören: ein Gipfel des Voyeurismus also.«

René Jacobs, Dirigent (*1946), über Rhetorik und Improvisation in der Barockoper

Die Rolle der Sängerin oder des Sängers ist dabei die einer Klang-Rede, die das Publikum rühren soll, indem es Einblick in die Seele der Figur ermöglicht. Unter den Arien in diesem gemeinsamen Programm sind gleich mehrere Wiederentdeckungen. Sich auf keine bereits vorhandene Interpretation beziehen zu müssen ist für Jeanine De Bique ein ganz besonderer Reiz.

Jeanine De Bique als Kleopatra

Image oder Spiegel? Storytelling oder Authentizität?

Storytelling oder das Gebot des Künstlers:
»Du sollst nicht langweilen«


Schon mindestens seit der Antike sind sich große Herrscherpersönlichkeiten der Bedeutung ihrer Kommunikation mit der Öffentlichkeit bewusst und versuchen, diese positiv zu beeinflussen.Vielleicht kann man sagen, dass Julius Cäsar im Jahre 50 v. Chr. mit der Veröffentlichung seiner Autobiografie einen Meilenstein setzte: Durch seine Kriegsberichte überzeugte er die römischen Bürger von seiner Eignung als Staatsoberhaupt.  Sein Storytelling - also sein »Geschichten erzählen« oder in diesem Falle eher die Präsentation seiner eigenen Erfolgsgeschichte - und seine Liebe zu Kleopatra haben nicht nur viele Opernkomponisten und -librettisten beflügelt, sondern auch Schriftsteller oder Regisseure. Dabei geht es eigentlich immer um den Konflikt zwischen Liebe und Macht. Sicher ist: Auch wenn vermutlich nicht alles wahr ist, was von und über Cäsar und Kleopatra überliefert ist: Es ist eine spannende Story. Und das Publikum liebt gute Geschichten.

»Das Image ist ein Spiegelbild, das schöner ist als das Original.«
Helmut Qualtinger (1928-1986), Schauspieler und Kabarettist

Bettina Schimmer hat im Jahr 2008 die Künstleragentur »Schimmer PR« gegründet.

Händels »Rodelinda« und Arkadien

In der Liebes-Arie »Ritorna, oh caro« sehnt sich Königin Rodelinda ihren tot geglaubten Gemahl Bertarido herbei. Vehement wehrt sie die Annäherungsversuche von Grimoaldo ab, der es auf den Thron abgesehen hat. Damit setzt sie alles aufs Spiel. Später - Bertarido lebt doch und kommt zurück, wird aber von Grimoaldo eingekerkert und soll hingerichtet werden. Doch dann geschieht ein kleines Wunder: Die Sehnsucht nach der Geborgenheit des Schäferidylls erfüllt auch den Bösewicht Grimoaldo, der Rodelinda um des Thrones willen bedrängt. Er, der Tyrann, wird von der Schönheit der Natur so sehr berührt, dass sein Zorn verblasst und er sich vor dem Einschlafen ins friedliche Arkadien träumt. Geradezu zauberisch ist die Kraft der Natur: sie offenbart Grimoaldo seinen Irrtum, und er stellt sich dem rechtmäßigen Herrscher Bertarido nicht mehr in den Weg. Mutter Natur hat die Harmonie wieder hergestellt. Beim Happy End besingt ein vergnügtes Schlussensemble die Macht der Tugend.

Arkadien - die verklärte Natur als Idealzustand

Von der Künstlichkeit bis ins kleinste Detail ist das Rokoko bald derart erschöpft, dass es sich eine verklärte Sagenwelt herbeisehnt: Arkadien. In einer gütigen Natur leben Mensch und Tier friedlich miteinander, Grundbedürfnisse sind kein Thema, die Beschränkung auf ein einfaches Leben wird idealisiert. Und damit ist man schon wieder so artifiziell, dass Arkadien zum Spiegel der künstlerischen Realität verkommt. Das wird besonders in der neuen Bildgattung der Fête galante deutlich.

Selbstinszenierung im Spiegel: Die einstudierte Anmut

Der frisch verliebte französische Schriftsteller Marivaux (1688-1763) erlebte mit seiner Erwählten folgendes:

»Mit siebzehn Jahren verliebte ich mich in ein junges Mädchen. (...) Eines Tages, als wir auf dem Land waren und ich sie gerade verlassen hatte, bewog mich ein bei ihr vergessener Handschuh wieder umzukehren, um ihn zu holen; ich bemerkte von weitem die Schöne, wie sie sich im Spiegel betrachtete, und zu meinem großen Erstaunen sah ich, daß sie sich selbst alle Bewegungen vorführte, in der ich ihr Gesicht während unserer Unterhaltung gesehen hatte; und es erwies sich, dass ihre Mimik, die ich für so natürlich gehalten hatte, nichts anderes war, um es deutlich zu sagen, als ein Taschenspielertrick; ich erkannte von weitem, daß ihre Eitelkeit den einen oder anderen Ausdruck guthieß oder auch verbesserte; es waren kleine Zierereien, die man hätte notieren können, damit sie eine Frau wie auswendig lernen kann. Ich zittere bei dem Gedanken an die Gefahr, in die ich geraten war, wenn ich mich gutgläubig noch weiter den Betrügereien ausgesetzt hätte, die sie mit so vollkommenem Geschick ausführte; ich hatte sie für natürlich gehalten und sie nur so geliebt; daher war meine Liebe auf der Stelle verflogen, als ob mein Herz sich nur mit Vorbehalt für sie erwärmt hätte. Sie bemerkte mich ihrerseits im Spiegel und errötete. Ich trat lachend ins Zimmer und nahm meinen Handschuh: Oh, Mademoiselle, ich bitte um Verzeihung, sagte ich zu ihr, daß ich bisher der Natur Reize zuschrieb, deren Ruhm doch allein ihrem Geschick zu verdanken ist. - Was soll das heißen? fragte sie mich. Soll ich offener mit ihnen reden? gab ich zurück; ich habe eben die Maschinerie der Oper gesehen. Jetzt bereitet sie mir zwar immer noch Vergnügen, aber sie rührt mich weniger. Mit diesen Worten ging ich hinaus.«

Pierre Carlet de Marivaux: aus: »Betrachtende Prosa«

Diese Spiegel-Episode von Marivaux veranschaulicht, wie sehr der bis ins kleinste Teil durchkomponierte Verhaltenskodex, bei dem nichts dem Zufall überlassen ist, keinen Raum für Natürlichkeit lässt. Nichts geschieht ohne Kalkül, alles ist Taktik.

Beginn der Dekadenz: Methode statt Inhalt

»Der Augenblick, wo nicht mehr der Inhalt, sondern die Form, nicht mehr die Sache, sondern die Methode zum Hauptproblem erhoben wird, bezeichnet immer und überall den Anfang der Décadence.«

Egon Friedell, aus: »Kulturgeschichte der Neuzeit«

Selfie-Kult als moderner Spiegel? - Die Arbeit am Ideal-Ich

Im 21. Jahrhundert hat das Spiegelsymbol eine neue Facette bekommen: das Smartphone als Medium der Selbst- und Welterkenntnis. Der »schwarze Spiegel« im Titel der Dramaserie »Black Mirror« spielt auf das dunkle, glänzende Display eines Smartphones bzw. eines TV- oder Computermonitors an. Und in der makellosen (oder zumindest nach Wunsch gestalteten) Welt der Influencer werden Bilder - vor allem von Gesichtern oder Körpern - so verändert, dass sie einem optimierten Ideal möglichst nahe kommen.

Der heutige Optimierungsrausch verzerrt die Realität. Durch die Echtzeit-Übertragung mit globaler Reichweite kann man vielleicht sogar sagen, dass die Vergänglichkeit mittels dieser technischen Möglichkeiten rasant zunimmt - und damit in Sachen Künstlichkeit eine Parallele zum Rokoko aufweist:

»Das Rokoko fühlte sich alt; und zugleich war es von der verzweifelten Sehnsucht des Alters erfüllt, die entschwindende Jugend dennoch festzuhalten: darum verwischte es die Altersunterschiede durch das gleichmäßig graue Haar. (...) Das junge oder jung geschminkte Gesicht mit dem weißen Kopf ist ein erschütterndes Sinnbild der Rokokoseele, die tragische Maske jener Zeit, denn jede Zeit trägt eine bestimmte Charaktermaske, in der sie alle ihre Velleitäten (Anm.: kraftloses, zögerndes Wollen) sammelt, ob sie es weiß oder nicht.«

Egon Friedell, aus: »Kulturgeschichte der Neuzeit«

Bei den ersten TV-Geräten, in den 1930er Jahren, konnte man das Bild nur indirekt, mit Hilfe eines Spiegels über dem Bildschirm, anschauen - ähnlich wie bei einer alten Spiegelreflexkamera.Inzwischen gibt es Monitore als riesige interaktive Hightech-Spiegel, bei denen man sich zum Beispiel seinen Fitness-Trainer als Hologramm ins Wohnzimmer beamen kann. Ist die Allgegenwart das neue Arkadien?

»Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde bis an ihre Grenzen erweitern. (…) Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen.«

Stanislaw Lem, aus: »Solaris«

Autorin: Silvia Hansen

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